Haben wir zu viel Anti-Amerikanismus auf der Welt? Nein! Heute muss man die Amerikaner kritisieren – in aller Freundschaft

allgemein
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ürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem guten Bekannten, ausgezeichneter Journalist, Deutscher, Herausgeber einer bedeutenden Zeitung, ich verehre ihn. Wir sind beim Thema Ukraine-Krieg gegenteiliger Meinung. Er findet, es gebe zu viel «Anti-Amerikanismus» heute. Dabei müssen man den USA doch dankbar sein. Vor zwanzig Jahren hätte ich ihm recht gegeben, doch heute widerspreche ich. Heute muss man die Amerikaner, vor allem ihre Politiker kritisieren. Das hast nichts mit Anti-Amerikanismus zu tun. Das ist angewandte Freundschaft!

Die USA sind grossartig, ein inspirierendes Land der Freiheit. Ich rechne ihnen hoch an, dass sie im Zweiten Weltkrieg Europa von den Nazis befreit haben – zusammen mit den Russen und den Briten, was wir nicht vergessen dürfen. Die USA sind ein Land der Siedler, der Pioniere und der Verfolgten, der Freiheitskämpfer und der Leute, die ihr Leben gegen Widerstand selber in die Hand genommen haben, ein Schmelztiegel der Völker, aber geeint in einem Geist der Freiheit und der Vielfalt.

Fantastisch.

Die Amerikaner haben aber auch, wie alles Menschliche, weniger erfreuliche Eigenschaften. Dazu zähle ich eine bestimmte Form des religiösen Fanatismus, der protestantischen Frömmelei. Ich halte ein religiöses Bewusstsein, eine christliche Grundierung der Kultur für eine grosse Stärke. Das Problem aber fängt an, wenn der Glaube in Trunkenheit umschlägt, in Selbstüberhöhung und die falsche Überzeugung, man sei dem lieben Gott näher als andere, weil man intensiver an ihn glaube.

Dieser Wesenszug ist Teil der amerikanischen Identität, das Gefühl des Auserwähltseins nicht im Sinn einer Bürde und Verantwortung, sondern im Sinn einer aktiven Sendung, einer Bevorzugung, einer Vorrangstellung vor Gott. Dieses Denken kann politisch in Messianismus umschlagen, konkret in Imperialismus, Herrenreitergehabe, in Arroganz und Machtgehabe. Das Problem verschärft sich bei grosser Macht, denn Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.

Das scheint mir heute das Problem der Amerikaner zu sein. Sie scheitern an einem übermotivierten Idealismus, der eigentlich eine Stärke ist, der einen aber blind macht für die Interessen der anderen. Mischt sich der überschiessende Idealismus mit Unsicherheit, wird er toxisch, aggressiv, gefährlich. Dass scheint mir jetzt der Fall zu sein. Die Amerikaner, so mein Eindruck dieser Regierung, sind im Begriff, sich selber abhanden zu kommen, ihre Ideale zu verraten.

Deshalb ist es die Aufgabe von uns, den Freunden der USA, unsere Freunde darauf aufmerksam zu machen, dass die Art, wie sie jetzt ihre Interessen glauben manifestieren zu müssen, nicht unseren Interessen entspricht. In meinen Augen haben die Amerikaner eine grosse Teilschuld am Krieg in der Ukraine. Natürlich haben die Russen angefangen, den ersten Schuss gefeuert, aber die Amerikaner haben das Feuerholz gelegt, das Putin mit seinem Einmarsch in Brand steckte.

Ich hatte vor vier Jahren ein interessantes Gespräch mit einem führenden amerikanischen Politiker. Er warnte vor China, nannte die Chinesen einen Todfeind der USA. Als ich ihn nach den Gründen fragte, kam eine interessante Antwort. Er sagte, die Chinesen seien deshalb für die Amerikaner eine Bedrohung, weil sie durch ihre Tüchtigkeit, ihre Intelligenz und ihren Fleiss die Amerikaner überflügeln, schlagen würden in ihrer ureigenen Domäne: dem Wettbewerb.

Dieser Politiker sah in den Chinesen also nicht einen systemischen Rivalen, wie es China und die Sowjets im Kalten Krieg waren, sondern er sah sie als im Grunde bessere, neue Amerikaner, die im ureigenen Spiel der Amerikaner, dem Wettbewerb, die Amerikaner besiegen würden. Das war eine erschütternde Feststellung für mich, hatte ich doch bis jetzt geglaubt, die Amerikaner seien für den offenen Wettbewerb. Offensichtlich ist das nicht so, oder es hat sich geändert. Der US-Politiker war für den Wettbewerb nur insoweit, als die Amerikaner stets gewinnen. Was natürlich das Gegenteil von Wettbewerb ist. Scheinwettbewerb. So tun als ob.

Die USA scheinen mit der Tatsache nicht zu Rande zu kommen, dass die Chinesen sie als Weltmacht Nummer eins ablösen können. Das wollen sie nun mit allen Kräften verhindern, notfalls mit Krieg. Ich glaube zwar nicht, dass so ein Krieg mehrheitsfähig wäre, weder in den USA noch in China, aber es wäre fahrlässig, davon auszugehen. Kriege, Konflikte können eine Eigendynamik annehmen. Es ist der Auftrag von uns allen, hier entgegenzuwirken, weil die Welt sonst schnell in Flammen aufginge.

Die USA sind verunsichert. Wohl auch deshalb berauschen sie sich an ihrer eingebildeten Auserwähltheit, übertreiben sie den Idealismus, den Moralismus, verdrängend oder nicht erkennend, dass sie dadurch ihren eigenen Grundsätzen untreu werden: Freiheit, Vielfalt, Toleranz. Wir Europäer leben auf einem Kontinent der Kriegsverlierer, der Geschädigten. Wir wollen keine Kriege mehr. Die Amerikaner haben gut Krieg führen in Europa oder in Asien – sie merken davon viel weniger als wir.

Eben hat Ron DeSantis seine Kandidatur fürs Weisse Haus bekanntgegeben. Ich bin etwas enttäuscht. Ich finde den Kampagnenstart unsicher, neben der Zeit. DeSantis wirkt auf mich wie ein Regionalpolitiker auf einer zu grossen Bühne. Vielleicht kommt’s ja noch. Über die Weltlage sagt er nichts, er redet von inneramerikanischen Problemen. Aber die Welt braucht heute einen klugen Real- und Geopolitiker im Weissen Haus, einen, der die Brände löscht, die seine Vorgänger gelegt haben.

Ich bin für die USA. Die USA sind die wichtigste Macht auf Erden, aber sie sind nicht die einzige, und sie sollten auch nicht den Anspruch erheben, es zu sein. Heute scheinen sie für selbstverständlich zu nehmen, dass sie anderen Staaten und Zivilisationen Befehle erteilen, amerikanische «Werte» und amerikanische Interessen allen anderen aufzwingen können. Das ist falsch, vor allem ist es gefährlich, weil es das Risiko von grossen Kriegen erhöht.

Henry Kissinger, der grosse Diplomat, warnt vor einem dritten Weltkrieg. Er sieht den Handlungsspielraum der Grossmächte immer enger werden. Man manövriere sich wechselseitig in Ecken, aus denen man nicht mehr herauskomme. Ein Krieg zwischen den USA und China wäre schlimmer als der Erste Weltkrieg, mahnt der bald Hundertjährige. Seine Kritik zielt auf Washington. Die Biden-Regierung schnürt China bündnispolitisch immer weiter ein. Der Stresspegel steigt.

Europa ist unsichtbar. Ich sehe keine Führung. Die Deutschen hängen am Rockzipfel der USA. Das Wort «Vasall» ist noch zu freundlich, denn Vasallen hatten gegenüber ihren Lehensherrn im Mittelalter immerhin noch gewisse Widerstands- und Unabhängigkeitsrechte. Vielleicht ist der Ausdruck «Sklave» passender. Die Briten heizen die Konflikte an. Die Polen und Balten haben mit Russland imperiale Rechnungen offen. Ungarn scheint die letzte vernehmliche Stimme der Vernunft.

Die Welt braucht mehr Gleichgewicht, weniger amerikanisches Übergewicht. Die USA irren, wenn sie glauben, ihre unipolare, einsame Vorrangstellung gegen aufstrebende, mehrtausendjährige Zivilisationen wie China mit der Brechstange sichern zu können. Die Chinesen haben die Nase voll vom westlichen Kolonialherrengehabe, das ihrem Land so viel Unheil zugefügt hat. Es braucht ein starkes Amerika, aber ein Amerika, das seine Grenzen kennt und die Grenzen der anderen respektiert.

So ist das, was die USA so gross macht, zugleich auch ihre grösste Schwäche: die Fähigkeit, Grenzen zu überwinden, über sich hinauszuwachsen, das Unmögliche zu schaffen, als «unbezähmbare Kraft des Guten» die Menschheit in ein Paradies auf Erden zu führen unter amerikanischer Flagge. Natürlich müssen die Amerikaner ihren Irrtum selber erkennen, aber wenn sie es nicht tun, wie es jetzt aussieht, sollten wir Europäer sie darauf hinweisen. Bestimmt. Und in aller Freundschaft.

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