Weltwoche Kommentar 10/22

Kommentar

Das entfesselte Imperium

O

hnmächtig verfolgen wir den Vormarsch der russischen Armeen. Die Ukrainer wehren sich heldenhaft, eine junge, noch kaum dreissigjährige Nation, die sich dem Bären mit grimmiger und im Kreml wohl unterschätzter Geschlossenheit entgegenstellt. Aus seinen Bunkern und Palästen funkt Präsident Selenskyj, ein früherer Schauspieler in der Hauptrolle seines Lebens, Signale des unbedingten Widerstands. Die Schändung eines souveränen Staats durch eine aggressive, erdrückend überlegene Weltmacht löst im Westen, auch in der Schweiz, Empörungswellen des solidarischen Beistands aus.

Wir Zaungäste des Kriegs, aufgewachsen in den Wohlstandsblasen des Westens, erleben mit Staunen eine Zeitreise zurück in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals hatten in Europa stolze Monarchien das Heft in der Hand. Die Politik war eine Vorstufe des Kriegs mit anderen Mitteln, der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit militärischen Methoden. Wenn sich die Imperien in ihren Interessen bedroht sahen oder einfach nur Lust hatten, einen unbewachten Flecken Erde einzusacken, dann schickten sie ihre Kavallerien los. Wladimir Putin, Russlands imperialer Kremlherrscher, ist ein Zar der Gegenwart, das Echo einer versunken geglaubten Zeit.

Die Russen sind ein bewundernswertes, stolzes Volk. Vom Westen kaum beachtet und noch weniger gewürdigt, haben sie wie einst die portugiesischen und spanischen Seefahrer im Osten einen gewaltigen Ozean von Land erobert. Ihre Transsibirische Eisenbahn, eine technische Pionier- und Meisterleistung zu ihrer Zeit wie später die Mondraketen der Amerikaner, diente der Bezwingung des Planeten Sibirien, einer Zauberlandschaft des Leidens, unter der die gewaltigsten Rohstoffvorkommen schlummern. Einst waren die Russen so reich, dass sie es sich leisten konnten, das von ihnen beherrschte Alaska den darbenden Siedlern in Nordamerika für ein Butterbrot zu überlassen.

Wir müssen also wissen, mit wem wir es zu tun haben. Die Schweiz ist stolz auf ihre sympathisch kleinbürgerlichen Bundesräte, die ohne Personenschutz Tram fahren und Politik als mehr oder weniger ehrliches Aushandeln von Kompromissen unter Gleichberechtigten verstehen. Das ist eine wunderbare Tradition, die weltweit allerdings so einzigartig ist wie unsere direkte Demokratie. Potentaten wie Putin, ein Sultan vom Schlage Erdogans oder auch Xi Jinping, dieser moderne Kaiser von China, sind aus anderem Holz. Herrscher eher als Politiker, sind sie das Produkt der geschichtlichen Erfahrung ihrer Völker und Imperien. In dieser Geschichte steckt Grösse, Tragik, Triumph, Untergang, Wiederauferstehung. Und sehr viel Grausamkeit.

In dieser Geschichte steckt Grösse, Tragik, Triumph, Untergang, Auferstehung.
Viel Grausamkeit.

Niemand weiss, wie es in der Ukraine herauskommt. Sicher ist nur, dass Putin seine Ziele mit finsterer Gewalt verfolgen wird. Die Russen sind Weltmeister des Planens, der strategischen Vorbereitung. Ein sklavisches Mikromanagement mindert die Kreativität der Ausführung, die sie dafür im Ausarbeiten ungezählter Eventualvarianten kompensieren. Wächst der Widerstand, zupfen sie einfach einen neuen Plan aus der Schublade. Steigen die Hindernisse, erhöhen sie den Druck. Das ist kein moralisches Urteil. Grossmächte sind so. Als sich die Amerikaner in Vietnam mit ihrer Einschätzung des Gegners im Dschungel arg verrechnet hatten, verschärften sie die Schlagzahl ihrer Bomber und warfen mehr Sprengstoff und Napalm über den Palmenwäldern ab als im Zweiten Weltkrieg über ganz Europa.

Aus Sicht des Kreml geben im Westen Heuchler und Schwächlinge den Ton an. Ein reicher Russe, der zu Hause als Industrieller wirkt, erklärte mir, sich für den Angriff auf die Ukraine ehrlich schämend, Putin sehe sich als Retter des dekadenten Abendlands. Wir erinnern uns an die zynischen Bemerkungen von Aussenminister Lawrow nach der Annexion der Krim im Jahr 2014, als er den zeternden Regierungschefs Europas zur Entspannung Yogakurse empfahl. Leider hat der Westen so ziemlich alles getan, um die vielleicht schon jetzt in Hybris kippende Überheblichkeit der Kremlgarde anzustacheln. Sie hat guten Grund, sich in ihrer Arroganz bestätigt zu fühlen.

N

atürlich haben auch die Russen ihren blinden Fleck. Leidenschaftliche Gefühlsvirtuosen, an sich gutmütig, oft überempfindlich wie Frauen, melancholische Italiener, neigen sie dazu, es sich in ihren gefühlten oder auch nur eingebildeten Kränkungen und Demütigungen allzu gemütlich einzurichten. Fast kindlich wirkt ihre Sehnsucht nach Anerkennung, die sie bei der geringsten Zurücksetzung als schwerverletzt empfinden. Selbstkritik ist nicht gerade Volkssport in Russland, und bis heute scheint es der Staatsführung äusserst schwer zu fallen, sich in die Seelenlage der benachbarten mitteleuropäischen Länder einzufühlen, die von morgens bis abends dem lieben Gott danken, dass sie nicht mehr unter der brutalen Knute Moskaus leben müssen.

Daraus leite ich nun nicht ab, dass wir Putins Riesenreich mit einem Atombombenteppich oder ewiger Verdammnis überziehen sollten. Ich plädiere für Respekt gegenüber Russland und seinen Interessen, auf der Grundlage einer soliden militärischen Verteidigungsfähigkeit, die den ewigen imperialen Versuchungen des Kreml bereits im Ansatz die Grundlage einer möglichen Realisierbarkeit entzieht.

Ich bin der Meinung, dass der Westen durch gleichzeitige Unterschätzung und Brüskierung Russlands im seit Jahren schwelenden Konflikt um die Ukraine diesen Krieg wesentlich mitverursacht hat, auch wenn man das im Moment nicht sagen darf. Langfristig ist Russland ein natürlicher Wirtschaftspartner Europas, eine faszinierende Schatzkammer der westlichen Kultur und für uns Europäer ein nach wie vor rätselhafter, faszinierender Kontinent, den zu erkunden und zu verstehen wir zu unserem eigenen und zum Schaden vor allem der Ukrainer so sträflich vernachlässigt haben.

R.K.

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